Meine Wohnung, deine Wohnung – unser Kind
Autorin: Annemarie Gerzer-Sass
Wo soll das Kind nach der Trennung leben? Das Wechselmodell bekommt nun Rückenwind von der Politik.
Wo soll das Kind nach der Trennung leben? Für viele Eltern ist das eine zentrale Frage, über die mitunter hart verhandelt wird – nicht selten vor Gericht. Ein Vorstoß der Bundesfamilienministerin Katarina Barley das sogenannte „Wechselmodell“ zu unterstützen könnte nun zu einem Paradigmenwechsel führen. Bereits im Februar 2017 urteilte der Bundesgerichtshofs (BGH), es spräche nichts dagegen, wenn Familiengerichte ein „Wechselmodell“ anordnen und auch gegen den Willen des anderen Elternteils (in der Regel die Mutter) durchsetzen, wenn diese geteilte Betreuung dem Wohl des Kindes am besten entspricht.
Kindeswohl versus klassische Rollenverteilung
Das Urteil ist eine Aufforderung sowohl an Eltern als auch an Familiengerichte und Institutionen bei der Entscheidungsfindung das Kind in den Mittelpunkt zu stellen. Dabei berührt es verschiedene Aspekte: Zentral ist das Wohl des Kindes als eigenständiges Subjekt. Je älter das Kind wird, umso wichtiger werden seine eigenen Wünsche und Vorstellungen, wie und wo es wohnen will. Das bisher mehrheitlich (zu 90 %) angewandte „Residenzmodell“, bei dem das Kind beispielsweise bei der Mutter wohnt und nur jedes zweite Wochenende beim Vater ist, folgt der klassischen Rollenverteilung. Die Mütter sind für die Kinder zuständig, die Väter sind Ernährer der Familie und erhalten nicht den zeitlichen gleichen Anteil für die Kinderbetreuung zugesprochen. Dies entspricht nicht mehr der Realität, weil sich heute mehr Väter an der Erziehung ihrer Kinder beteiligen wollen und Mütter nicht mehr in dem Maße beruflich zurückstecken wollen wie früher. Mehr als die Hälfte der Scheidungseltern (51 %) wünschen sich, weiterhin mit dem Kind im Alltag gemeinsam zu leben (Allensbach-Studie), wenn auch an unterschiedlichen Wohnorten.
Hürden des Wechselmodells
Die Realität zeigt aber auch, dass nur 22 Prozent diesen Wunsch in die Praxis umsetzen können. Das hat verschiedene Gründe:
Die Trennungs- oder Scheidungsphase ist nicht die beste Zeit für die Aushandlung von Verständigungen und Kompromissen: Ohne Hilfe ist die Kompromissfindung oft schwierig. Hier bedarf es der Mediation und Beratung, um die Elternrolle trotz der aufgekündigten Partnerschaft im Sinne des Kindes leben zu können. Paare müssen permanent an der gemeinsamen Verantwortung und dem Aufbau von neuem Vertrauen arbeiten. Wer glaubt, mit der Scheidung hat man den Partner „entsorgt“, täuscht sich: Die gemeinsame Elternschaft ist auf Lebenszeit angelegt und es muss je nach Entwicklungsstand des Kindes daran gearbeitet werden.
Eltern fürchten, Kinder könnten durch das Wechselmodell entwurzelt werden: Diese Befürchtungen bestätigen sich in der Praxis nicht, sofern das Wechselmodell kindgerecht gestaltet ist. Eine Studie des Deutschen Jugendinstituts zeigt, dass sich Kinder – nicht nur ältere – meist sehr gut mit dem Leben in zwei Elternhäusern arrangieren und sich dies positiv auf ihre Entwicklung auswirkt. Entscheidend sei, wie Eltern den Kindern begegnen und nicht, in welchen Räumen dies stattfindet. Für das Gelingen des Wechselmodells sei es wichtig, dass die Wohnorte der Eltern nicht weit voneinander entfernt liegen und dass der Wechsel mit zunehmendem Alter der Kinder flexibel gestaltet wird, so die Empfehlung von Prof. Dr. Jörg Maiwald, Geschäftsführer der Deutschen Liga für das Kind. Allerdings ist das Wechselmodell nicht für jedes Kind geeignet, weshalb der Wille des Kindes hinterfragt und altersgemäß berücksichtigt werden muss. Betreuten bisher beide Eltern das Kind, sollte dies weiter möglich sein, um die gewachsenen Bindungen zu erhalten und weiterentwickeln zu können.
Nicht jede Familie kann sich das Wechselmodell leisten
Allzu oft scheitern die besten Vorsätze am knappen und teuren Wohnraum in größeren Städten, an den logistischen Herausforderungen oder den Arbeitszeiten und -anforderungen von Müttern und Vätern. Diese Hürden gilt es mit Hilfe der Familienpolitik zu lösen. Insbesondere brauchen hier Unternehmen einen Schub für die Gleichstellung von Vätern in punkto flexible Arbeitszeiten und Elternzeit und auch einen Wandel in der Führungskultur: Noch immer ist Führungskräften zu wenig bewusst, dass gelebte Verantwortung in der Familie nicht einen Kompetenzverlust, sondern einen Kompetenzgewinn für das Unternehmen bringt.
Schweden geht mit gutem Beispiel voran: Weniger Streit, mehr Gleichberechtigung
In Schweden lebt bereits ein Drittel aller Kinder aus Trennungs- und Scheidungsfamilien das Wechselmodell. Hier zeigt sich, dass dies auch Auswirkungen auf den Umgang der getrennten Partner miteinander hat. Die Wechselmodell-Expertin Hildegund Sünderhauf-Kravets, Rechtsanwältin für Familienrecht und Professorin für Recht an der Evangelischen Fachhochschule Nürnberg, geht davon aus, dass sich das Wechselmodell in den nächsten 20 Jahren auch in Deutschland durchsetzen wird.
Damit verbunden sieht sie die Chance für einen friedlicheren und kooperativeren Umgang mit Trennung und Scheidung, da Eltern nicht mehr um Kinder kämpfen müssen. Wird die Betreuungszeit hälftig geteilt, fallen auch Unterhaltsstreitigkeiten weg, denn beide Elternteile können gleichzeitig ihre Betreuungs- und Unterhaltspflicht erfüllen. Der Paradigmenwechsel könnte somit auf verschiedenen Ebnen stattfinden: Bei der Gestaltung von Trennung und Scheidung innerhalb der Paarbeziehung, bei der Frage der Gleichstellung von Vätern bei der Kinderbetreuung, bei den Rollenbildern innerhalb der Institutionen und vor allem in der Arbeitswelt, die Mütter und Vätern eine adäquate Betreuung ihrer Kinder ermöglicht.
Quellen:
Hildegund Sünderhauf: „Wechselmodell: Psychologie-Recht-Praxis: Abwechselnde Kinderbetreuung durch Eltern nach Trennung und Scheidung“ Springer VS ISBN 978-531-1909-8 (eBook).
Institut für Demoskopie Allensbach: Zukunftsgespräch „Getrennt gemeinsam erziehen“ 11. Juli 2017 in: Newsletter des BMFSFJ Nr. 66/ Ausgabe vom 08.08.2017 – Kernergebnisse einer Befragung von Trennungseltern.
Über die Autorin:
Annemarie Gerzer-Sass hat viele Jahre am Deutschen Jugend Institut als Familienforscherin gearbeitet. Sie hat für das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) zehn Jahre lang das Projekt „Mehrgenerationenhäuser“ geleitet , für das die pme Familienservice Gruppe als Serviceagentur tätig war. Heute ist unsere langjährige Mitarbeiterin im „Unruhestand“ und schreibt u.a. für unseren Blog.
Mutterschutz, Kindergeld & Co.: Die pme-Elternberatung
Unsere Elternberater:innen begleiten Eltern in allen Fragen von der Schwangerschaft bis zum Erwachsenwerden des Kindes. Persönlich und vertraulich: Wir sind online, telefonisch oder vor Ort für Sie da.
Dieser Youtube Inhalt kann erst geladen werden, wenn Sie die Datenschutzbestimmungen von Google LLC akzeptieren.
Zu den Datenschutzeinstellungen »