Familientherapeutin und pme-Beraterin Jutta Dreyer im Gespräch über häusliche Gewalt.
Wir sprechen mit Jutta Dreyer, Familientherapeutin und Beraterin an der Lebenslagen-Hotline des pme Familienservice. Die Lebenslagen-Hotline bietet den Beschäftigten ihrer Vertragspartner:innen eine anonyme und kostenlose Erst- und Krisenberatung für Frauen, Kinder und weitere Personen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind.
Jutta Dreyer: Mit häuslicher Gewalt ist Gewalt gemeint, die in Paar- oder Ehebeziehungen passiert. Sie kann aber auch zwischen Geschwistern, gegen Kinder durch die Eltern oder gegen Eltern durch jugendliche Kinder verübt werden. Bei uns in der Beratung haben wir zudem oft den Fall, dass ältere Menschen durch ihre pflegenden Angehörigen Gewalt erfahren. Meistens passiert häusliche Gewalt in den eigenen vier Wänden.
Häusliche Gewalt reicht von Beleidigungen, Verboten, Drohungen und Demütigung bis hin zu körperlicher, seelischer, sexueller und ökonomischer Gewalt, wenn die Betroffenen finanziell abhängig sind vom Täter. Meistens erleben die Betroffenen mehrere dieser Gewaltformen gleichzeitig.
Häusliche Gewalt gibt es in allen sozialen Schichten und jeder kann davon betroffen sein. In der Regel sind es Frauen, die physische, psychische und sexuelle Gewalt durch ihre Partner erleben. Es gibt auch Männer, die Opfer von häuslicher Gewalt werden. In vier von fünf Fällen sind aber Frauen die Opfer.
Leben Kinder im Haushalt, sind sie häufig selbst Opfer physischer Übergriffe oder extrem beeinträchtigt, weil sie die Gewalt und das Klima der Angst und Einschüchterung miterleben müssen. Oft versuchen die Kinder die Mutter zu beschützen und sind Loyalitätskonflikten dem Vater gegenüber ausgesetzt. Die Kinder leiden meistens sehr lange an psychischen Folgen und zeigen Verhaltensausfälligkeiten sowie Angst- und Entwicklungsstörungen.
Bei häuslicher Gewalt muss unterschieden werden zwischen spontanem Konfliktverhalten und systematischem Kontrollverhalten. Bei der systematischen Gewalt geht es dem Täter darum, die Beziehung zu beherrschen und Macht auszuüben. Die Opfer sind hier fast ausschließlich Frauen. Gewalt als spontanes Konfliktverhalten entsteht aus dem Affekt, wenn ein Streit oder Konflikt eskaliert. Hiervon sind Frauen und Männer übrigens gleichermaßen betroffen.
Wir merken bei uns in der Beratung, dass die Fälle von spontaner häuslicher Gewalt in diesem Jahr angestiegen sind. Die eingeschränkte Bewegungsfreiheit während des Lockdowns hat bei vielen Paaren zu großem Stress geführt. Vor allem Paare und Familien, die zuvor schon Probleme hatten, stehen unter großem Druck, der jetzt außerhalb des eigenen Heims kein Ventil mehr findet, zum Beispiel beim Sport oder bei persönlichen Treffen mit anderen. Auch Alkohol spielt sicher eine Rolle, denn während des Lockdowns ist der Konsum in den eigenen vier Wänden bei vielen gestiegen.
Viele Frauen haben Angst, dass die Situation im Moment der Trennung eskalieren könnte. Deshalb ist es in der Beratung wichtig, an dieser Stelle sehr umsichtig zu sein, einen Notfallplan zu entwickeln und alles in die Wege zu leiten, damit die Frauen und ihre Kinder geschützt sind. Zum anderen haben viele Frauen finanzielle Ängste, machen sich Sorgen, ihre Kinder aus ihrer gewohnten Umgebung zu nehmen, und wissen nicht, ob sie die Veränderungen nach einer Trennung meistern können. Die meisten Männer sind phasenweise auch wieder sehr liebevoll. Oft entschuldigen sich die Täter auch, nachdem sie gewalttätig waren, und versprechen, es nie wieder zu tun. Dadurch hoffen viele Frauen, dass es wieder besser wird.
Für viele Frauen ist es wichtig, dass sie dort abgeholt werden, wo sie stehen, und dass ihnen jemand zuhört, ohne Druck auszuüben oder sie zu einer Entscheidung zu drängen. Wir informieren sie über ihre Rechte und die Hilfs- und Unterstützungsmöglichkeiten, so dass sie sich für oder gegen eine Trennung entscheiden können. Es ist wichtig, dass wir gemeinsam mit den Frauen ein „Bild“ zeichnen, das eine Zukunft beinhaltet, die aus ihrer Sicht funktionieren kann. Wir wollen die Frauen ermutigen, ihre Stärken und Ressourcen zu erkennen und zu sehen, was sie alles schon erreicht haben.
Das hängt natürlich stark von der Situation ab, in der die Frau ist. Wenn die Situation zu eskalieren droht, tun wir alles zu ihrem Schutz: Wir rufen die Polizei als Unterstützung oder ein Taxi, wenn es schnell gehen muss. Wenn die Frauen ihre Wohnungen verlassen möchten, recherchieren wir Frauenhäuser, suchen andere geschützte Plätze wie Pensionen oder überlegen, bei welchen Freundinnen oder Verwandten sie einen sicheren Ort finden könnten.
Für viele Frauen ist die Beratung aber ein erster Schritt, um in Erfahrung zu bringen, wie der Weg aus der Gewalt aussehen könnte, was ihre Möglichkeiten sind und wo es finanzielle Hilfen gibt.
Wenn Kinder von häuslicher Gewalt betroffen sind und wir den Eindruck haben, dass sie in akuter Gefahr sind, dann sind wir auch verpflichtet zu handeln. Ich rate auch den Müttern, das Jugendamt zu informieren, wenn ihre Kinder von Gewalt betroffen sind. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Jugendämter sehr durchdacht und fachlich gut vorgehen und versuchen, die Familien sehr gut zu unterstützen. Bei uns in der Beratung haben wir auch Expertinnen zum Kinderschutz, die wir nach Wunsch hinzuziehen können.
Was viele Frauen nicht wissen: Es gibt ein Recht auf körperliche Unversehrtheit. Das bedeutet: In dem Moment, wo eine Person in der eigenen Wohnung bedroht wird, wird über Gerichtswege entschieden, dass die Wohnung dem Opfer zugesprochen wird und der Partner sie verlassen muss.
Es gibt Täterprogramme, und die sind sehr erfolgreich, sofern die Männer bereit sind, sich darauf einzulassen und ihr Verhalten ändern möchten. Wer sich darüber informieren möchte, kann sich an die Männerberatungsstellen wenden.
Vielen Dank für das Interview!
Jutta Dreyer ist Familientherapeutin und Leiterin des pme Lebenslagencoachings und ebenso Führungskräfte-Coach beim pme Familienservice.