Johannes Hartl: "Wir verlernen die Toleranz"
Ob in Familien, Freundschaften oder am Arbeitsplatz: Themen wie Klimawandel, Migration oder Kriege können zu heftigen Diskussionen führen. Die Sprache wird dann oft rauer und es fallen abwertende Kommentare. Was können wir im Kleinen zu einer toleranten Gesellschaft beitragen?
Im Rahmen unserer Kampagne “Im Gespräch bleiben – Haltung zeigen” präsentiert der Philosoph, Theologe und Autor Johannes Hartl Denkanstöße, wie es gelingen kann in kontroversen Gesprächen Haltung zu zeigen und gleichzeitig miteinander im Gespräch zu bleiben. Ein Interview über die Bedeutung von Toleranz, häufige Argumentationsmuster auf Social Media und was es braucht, um wieder zu einer konstruktiven Gesprächskultur zu finden.
Herr Hartl, was bedeutet Toleranz für Sie?
Johannes Hartl: Die Fähigkeit, einem anderen Menschen mit Respekt und Wohlwollen zu begegnen, auch wenn unsere Meinungen auseinandergehen.
Das Thema einer Ihrer Vorträge lautet „Canceln wir die Toleranz?". Was ist Ihre Sorge?
Wir leben in immer kleineren Meinungsblasen. Die Algorithmen der Nachrichtenverbreitung im Internet wählen die Informationen aus, die unsere eigene Weltsicht bestärkt. Dadurch verlernen wir aber gerade die Toleranz. Darüber hinaus bereitet es mir Sorge, dass weit über 50 Prozent der Menschen in Deutschland sagen, sie würden sich nicht mehr trauen, offen ihre Meinung zu sagen.
Sie sind viel auf Social Media unterwegs, wo die Diskussionen nicht immer sachlich verlaufen. Welche Argumentationsmuster begegnen Ihnen häufig?
Empörung ersetzt das Argument. „Schämen Sie sich!“ und „So etwas zu sagen ist ein Schlag ins Gesicht für Personengruppe XY!“ sind zwar menschlich verständliche Reaktionen, aber kein Argument. Tatsächlich erleben wir immer emotionalisiertere Reaktionen und immer seltener freundliche, aber in der Sache klare Diskussionen.
Sie vertreten mitunter auch provokante Standpunkte. Was sagen Sie Menschen, die empfinden, ihre Meinung nicht mehr sagen zu können?
Zum Glück leben wir in einem Land, in dem man grundsätzlich durchaus die eigene Meinung sagen kann. Leider sind die sozialen Folgekosten bisweilen sehr hoch. Wer zum Beispiel Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Corona-Maßnahmen äußerte, wurde diffamiert, als Spinner bezeichnet und verlor in Einzelfällen sogar seinen Job. Bereits das soziale Stigma, einer angeblich „bösen“ Meinung anzuhängen oder ein „Leugner“ von irgendetwas zu sein, kann sehr einschüchternd wirken. Dennoch kann die Lösung nur sein, trotzdem den Mund aufzumachen, sonst begeben wir uns freiwillig in die Unfreiheit.
Haben Sie ein paar einfache Tipps, wie man auch bei unterschiedlichen Meinungen im Gespräch bleiben kann?
Das lernt man am besten in der Familie, denn seine Familienangehörigen kann man sich nicht nach Meinungsspektrum aussuchen. Tatsächlich ist das Wichtigste das ehrliche, vorurteilsfreie Zuhören. Höre ich wirklich das Argument und das Anliegen dahinter oder teile ich die Meinung sofort in „gut“ und „böse“ ein?
Unsere Kampagne heißt „Im Gespräch bleiben – Haltung zeigen“. Wo ist für Sie eine rote Linie, an der Sie ein Gespräch abbrechen?
Bei persönlichen Beleidigungen, bei ständigen Wiederholungen bereits widerlegter Argumente und natürlich bei körperlicher Gewalt.
Ob am Arbeitsplatz, im Freundeskreis oder in der Familie: Derzeit sind viele Debatten aufgeheizt. Glauben Sie, dass wir wieder zu einer ruhigeren Gesprächskultur zurückfinden? Was wäre dafür nötig?
Das halte ich durchaus für möglich. Das Debattieren sollte bereits in der Schule aktiv gelernt werden (ist in manchen Schulen auch durchaus der Fall) und wer in der Öffentlichkeit steht, sollte mit gutem Beispiel vorangehen. Dennoch müssen wir einsehen, dass die rasante Digitalisierung einer tieferen sachlichen und kontroversen Auseinandersetzung grundsätzlich entgegensteht. Deshalb wird es aktive Anstrengungen brauchen, um den hohen Wert der Gesprächskultur aufrechtzuerhalten.
Vielen Dank für das Interview, Herr Hartl!